Urgyen Sangharakshita:
„Ich schätzte Li Gotami für ihre Lebhaftigkeit und Intelligenz, wie für ihre wunderbare Offenheit, die zuweilen ans Unerhörte grenzte.“
Li Gotami (1906-1988) war eine vielseitige Künstlerin, die als Malerin, Fotografin, Forschungsreisende und Schriftstellerin hervortrat. Zudem komponierte sie Lieder. Ihr Werk als Autorin reicht vom Expeditionsbericht bis zum Kinderbuch.
Li Gotami Govinda wurde 1906 als Rutty Petit im heutigen Mumbai geboren. Sie entstammte einer parsischen Familie. Zur Schule ging sie in Indien, England und Frankreich. Schon als Kind und Jugendliche wurde ihre vielseitige künstlerische Begabung deutlich. So erhielt sie eine Ausbildung, deren Spektrum vom Klavierunterricht bis zum klassischen indischen Tanz reichte. Eine ihrer frühen großen Leidenschaften war die Fotografie, und sie gewann mehrere Preise auf diesem Gebiet. Schon als junge Frau war sie selbstbewusster, als man dies von Angehörigen des weiblichen Geschlechts in Indien erwartete. Ihre Ehe mit einem parsischen Rechtsanwalt ließ sie scheiden, was im damaligen Indien unerhört war. Sie wollte das freie Leben einer Künstlerin führen.
Sie ging an die von Rabindranath Thakur (Tagore) gegründete Universität, wo sie Meisterschülern des Malers Abanindranath Thakur wurde, des Gründers der Bengalischen Schule der Malerei und bekanntesten modernen Künstlers im damaligen Indien. Ihre erste Begegnung mit dem Lehrer beschrieb sie folgendermaßen: „Ich ging durch Felder spazieren, als mich eine lehrende Stimme aus der Ferne gefangen nahm, die sprach: ‚Wenn du fühlst, dass du singen willst – singe! Wenn du fühlst, dass du malen willst – male!’ Das traf mich wie ein Donnerschlag!“ Abanindranath Thakurs Lebenshaltung und Stil entsprachen ganz den ihren: „Er glaubte nicht an Regeln und Vorschriften, was in vollständiger Harmonie mit meinen eigenen Ideen war, denn immer seit meiner Kindheit hasste ich diese und arbeitete absichtlich in Opposition zu dem, was die Welt im Allgemeinen wollte. Ich war rebellisch geboren.“
Während der zwölf Jahre, die sie an der Universität verbrachte, lernte sie Anagarika Govinda kennen, der dort Vorlesungen hielt. Er vermittelte ihr den Buddhismus und die Kultur Tibets und brachte sie zu seinem Lehrer Ngawang Kalzang (Tomo Geshe). 1947 heirateten Govinda und Rutty Petit, die sich dem Buddhismus zuwandte und den Namen Li Gotami annahm.
Gemeinsam unternahmen Li Gotami und Lama Govinda Forschungs- und Pilgerreisen nach Tibet. So brachen sie mit Unterstützung der Wochenzeitung Illustrated Weekly of India, die darüber berichtete, zu einer Expedition auf, die der Erforschung der Kunst des untergegangenen westtibetischen Königreichs Guge diente.
Li Gotami hielt die Menschen, die Landschaft und die Kunst Tibets in hunderten Fotografien fest. Ihre darauf beruhende zweibändige Fotodokumentation Tibet in Pictures: A Journey Into the Past gewährt einen der letzten Einblicke in die Welt des alten Tibet vor 1950. Zudem kopierte sie unter den schwierigen Bedingungen des tibetischen Winters Tempelfresken. Govinda berichtete: „Li musst die Flasche mit chinesischer Tusche im Inneren ihres Gewandes durch Körperwärme am Einfrieren hindern, und alle paar Augenblicke musste sie den Pinsel mit ihrem Atem auftauen, da die Tusche nach wenigen Strichen zu erstarren begann. Dies war besonders unerfreulich während der letzten Tage unseres Aufenthalts in Tsaparang, in denen jede Minute kostbar war, und ich erinnere mich, dass einmal, als sie in Tränen ausbrach, im Kampf mit dieser extremen Kälte, ihre Tränen zu Eis erstarrten, ehe sie zu Boden fielen und dort als kleine Eiskügelchen abprallten.“
Früchte der damaligen Arbeit Li Gotamis sind heute in der Tibet-Abteilung des Chhatrapati Shivaji Maharaj Vastu Sangrahalaya, dem früheren Prince of Wales Museum, in Mumbai zu sehen.
Neben der Arbeit an ihrem eigenen Werk nahm Li Gotami vier Jahrzehnte an allen Aktivitäten Lama Govindas teil. Sie sorgte in Indien dafür, dass er trotz vieler Menschen, die ihm begegnen wollten, die nötige Ruhe zum Meditieren und Schreiben seiner Werke fand und begleitete ihn auf jeder seiner Vortragsreisen. Alan Watts schrieb: „Man sagt hinter jedem großen Mann, sei eine Frau. Es hat mich stets erfreut, dass der Lama und Li Gotami in der Öffentlichkeit gemeinsam als spirituelles Team auftraten. Man stelle sich einen christlichen Geistlichen oder einen jüdischen Rabbi gemeinsam mit seiner Frau auf der Kanzel vor! Das stößt westliche Ideen über östliche Frauen vollständig um, und, obwohl Li Gotami nicht sehr viel sagt, wenn sie spricht, trifft es vollkommen den Punkt und hat eine starke und erdnahe Sachlichkeit. Viel gutes Karma begleitet einen Mann, dessen Frau in seinem spirituellen Abenteuer so vollständig bei ihm ist.“
Im Jahr nach Lama Govindas Tod 1985 kehrte Li Gotami aus Kalifornien nach Indien zurück. Sie hatte die Idee einer Stiftung, die das Werk ihres Mannes verwalten und Aktivitäten in seinem Sinn vornehmen und fördern sollte. Hierfür traf sie testamentarische Verfügungen. Nach Li Gotamis Tod 1988 wurde ihr Wunsch mit der Lama und Li Gotami Govinda Stiftung verwirklicht.
Tiziano Terzani:
Li Gotamis „Ziel war es, die Welt ‚aus einer anderen Perspektive’ zu betrachten, deswegen malte sie die Dinge so, wie sie sie mit dem Kopf nach unten durch die Beine hindurch sah.“
John Blofeld:
„Li Gotami, eine gefühlvolle Künstlerin, die in reichen Farben schwelgt, ist mit ihren hellen, intelligenten Gesichtszügen einer Parsin, ihrem feinen, selbstgesponnenen Sari so hübsch wie ein Gemälde.“