Anagarika Govinda
Robert Thurman: „Lama Anagarika Govinda war zweifellos einer der größten Geister des Westens im 20. Jahrhundert, und er sollte als einer Gruppe zugehörig betrachtet werden, die Einstein, Heisenberg, Wittgenstein, Solschenizyn, Gandhi und den Dalai Lama umfasst.“
Der Autor und Buddhologe, Maler und Mystiker Anagarika Govinda (1898-1985) schuf seit früher Jugend bis zu seinem Tod ein gewaltiges Werk. Das schriftstellerische Schaffen umfasst philosophische Abhandlungen, Lyrik, Drehbücher, Reisebeschreibungen sowie Arbeiten über Literatur, Kunstgeschichte und Architektur. Im künstlerischen Oeuvre finden sich hunderte Gemälde, die seinen Lebensweg mit Stationen wie Italien, Afrika, Indien und Tibet widerspiegeln, Grafiken und Choreografien. In seinem zugleich tätigen wie meditativen Leben fand Lama Govinda noch Zeit, Ungezählte durch persönliche Impulse seiner undogmatischen Spiritualität zu einem schöpferischen und erfüllten Dasein zu inspirieren. Er wohnte stets zurückgezogen und engagierte sich doch vielfältig für die Welt, etwa durch seinen Einsatz für den Erhalt der Kultur Tibets. Immer lebte er in bescheidenen Verhältnissen, verlangte nichts für sich und verschenkte, was er besaß.
Anagarika Govinda wurde 1938 unter diesem Namen ein Staatsbürger Indiens. Als Ernst Lothar Hoffmann kam er 1898 als Sohn eines deutschen Vaters und einer bolivianischen Mutter in Waldheim in Sachsen zur Welt. Schon als Schüler bewegten ihn philosophische Fragen, und er beschäftigte sich intensiv mit den Religionen der Welt. In seinem ersten Buch Die Grundgedanken des Buddhismus und ihr Verhältnis zur Gottesidee, das 1920 erschien, versuchte der 22-Jährige einen Brückenschlag zwischen Buddhismus und Christentum. Das frühe Werk kam in japanischer Übersetzung auch in Tokyo heraus.
Um buddhistische Texte direkt zu lesen, lernte er im Selbststudium die klassische indische Sprache Pali, aus der er in den 1920er Jahren Übersetzungen veröffentlichte. Als Soldat im Ersten Weltkrieg erkrankte er schwer an Tuberkulose. Dies ließ ihn Studien der Philosophie und Archäologie an der Universität Freiburg im Breisgau nicht fortführen. Nach langem Aufenthalt im Sanatorium begab er sich 1920 nach Capri, um zu sterben oder im dortigen Klima zu genesen. Er fand Anschluss an auf der Insel verkehrende Künstler und Literaten wie den Maler Earl Brewster und den Autor D. H. Lawrence. Als er die Gesundheit zurückgewann, widmete er sich mit einem Stipendium des Deutschen Archäologischen Instituts einem Dissertationsprojekt, der Erforschung bronzezeitlicher Architektur im Mittelmeerraum. Darüber hinaus arbeitete er als Maler und Lyriker. Neben Landschaftsbildern und abstrakten Gemälden entstanden die Gedichtbände Rhythmische Aphorismen (1926) und Gedanken und Gesichte (1927).
1928 ließ er sich auf der Insel Ceylon, dem heutigen Sri Lanka, nieder, um sich verstärkt buddhistischen Studien zu widmen. Er wählte die Lebensform eines Anagarika, wörtlich eines ‚Hauslosen’ und nahm bei der Ordination den Namen ‚Govinda’ an. Mit dem Mönch Nyanatiloka gründete Govinda die International Buddhist Union, die Buddhisten aus Asien und Europa zusammenführen wollte.
In einem tibetischen Kloster Nordindiens begegnete Govinda 1931 dem Lama der Gelugpa-Schule Ngawang Kalzang (1866-1936), unter dem Namen Tomo Geshe Rinpoche als herausragender buddhistischer Mystiker bekannt. Govinda erhielt als dessen Schüler Initiationen und Unterweisungen in meditativer Praxis. Der Meister inspirierte Govinda 1933 zur Gründung des Ordens Arya Maitreya Mandala. Nach dem Tod Ngawang Kalzangs empfing Govinda Impulse dreier weiterer Lehrer, des chinesischen Meisters Taixu (1890-1947) sowie der tibetischen Lamas Ajo Repa Rinpoche und Lotho Gyalbo Rinpoche.
Ab 1931 wirkte Govinda als Lektor indischer Universitäten. Der Gründer der Universität Vishva Bharati, Literatur-Nobelpreisträger Rabindranath Thakur (Tagore), nahm durch seine Persönlichkeit wie seine Ideale der Bildung und Humanität bedeutenden Einfluss auf Govinda. Vorlesungen Govindas erschienen in Buchform, etwa die an der Universität Patna gehaltene Reihe The Psychological Attitude of Early Buddhist Philosophy (1939).
Zudem feierte Govinda in Indien Erfolge als Maler. Ein Museum in Allahabad richtete die „Govinda Hall“ ein, eine Dauerausstellung mit 90 seiner künstlerischen Arbeiten. Obwohl schon britisch-indischer Staatsbürger, internierte man Govinda von 1940 bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs wegen seiner Nähe zur indischen Unabhängigkeitsbewegung um Mahatma Gandhi. Govinda verbrachte diese Jahre mit Meditation, Studien und umfangreichen literarischen Arbeiten.
1947 heiratete Govinda die als Li Gotami bekannte parsisch-indische Künstlerin Rutty Petit, die er im Umfeld Rabindranath Thakurs kennengelernt hatte. Die Fotografin und Malerin nahm intensiven Anteil an seinen Aktivitäten wie er an den ihren. Gemeinsam brachen sie zu Forschungs- und Pilgerreisen nach Tibet auf, darunter 1948 zu der legendären Tsaparang-Expedition, die wertvolle kunsthistorische Dokumentationen brachte.
Ab den 1950er Jahren lebten Govinda und Li Gotami abgeschieden im nordindischen Kasar Devi, um sich der Meditation, dem Aufarbeiten ihrer Tibet-Forschungen, dem Schreiben und Malen zu widmen. In jener Zeit entstanden Werke Govindas wie Grundlagen tibetischer Mystik (1956), Der Weg der weißen Wolken (1966) und Schöpferische Meditation (1976), die in zahlreiche Sprachen übersetzt wurden und den Autor weltweit bekannt machten. Govinda sprach viele durch seine Methode an, den Erlebnisgehalt buddhistischer Inhalte und Praktiken durch Brückenschläge zu westlichen Denkern und Dichtern wie Ludwig Klages, Friedrich Nietzsche und Rainer Maria Rilke zu vermitteln.
Der Erfolg seiner Bücher führte ab den 1960er Jahren dazu, dass man ihn aus seiner Abgeschiedenheit am Fuß des Himalaja einlud, weltweit auf Kongressen zu sprechen und Vorträge zu halten. So kam er nach 30 Jahren erstmals wieder nach Europa. Zu diesen Anlässen schloss Govinda Freundschaften mit Persönlichkeiten des Geisteslebens, mit denen er durch ausgedehnte Korrespondenzen in Gedankenaustausch stand, darunter der Physiker Werner Heisenberg, der Philosoph Jean Gebser, der Daoismus-Interpret Alan Watts, der Pionier der transpersonalen Psychotherapie Roberto Assagioli, die Autorin Luise Rinser und viele andere.
Auf seinen Vortragsreisen eingehende Mittel widmete er dem Aufbau eines kulturellen Zentrums für Tibeter in den Kumaon-Bergen.
Als spiritueller Lehrer beschränkte sich Lama Govinda auf die direkte Unterweisung eines kleinen Schülerkreises, dem er persönlich seine Erkenntnisse und Methoden vermittelte. Unter ihnen traten manche wie er literarisch hervor: Der Yoga-Autor Hans-Ulrich Rieker veröffentlichte erfolgreiche Bücher wie Geheimnis der Meditation und Die zwölf Tempel des Geistes; der Indologe Karel Werner legte zahlreiche Werke zum Buddhismus und Hinduismus vor; der Psychologe und Indologe Robert Janssen übersetzte viele klassische Werke des Buddhismus ins Niederländische; der Philosoph und Religionswissenschaftler Volker Zotz wurde durch Schriften wie Buddha, Geschichte der buddhistischen Philosophie und Mit Buddha das Leben meistern bekannt. Einige Schüler Lama Govindas kennt man als weit beachtete buddhistische Lehrer, darunter der Vietnamese Phuc Tuê und die Deutschen Advayavajra Karl-Heinz Gottmann und Asaṅga Armin Gottmann.
Über den engeren Schülerkreis hinaus vermittelte Anagarika Govinda auf Vortragreisen und durch Tätigkeiten wie die Gastprofessur an einer Universität in Dallas (Texts) vielen Menschen entscheidende Impulse. Als sich sein Gesundheitszustand während eines Aufenthaltes in Kalifornien verschlechterte, beschloss er, dort die letzten Lebensjahre zu verbringen. Hier entstanden weitere Bücher, Bilder und andere Arbeiten. So schloss er das Werk The Inner Structure of the I Ching (1981) ab, eine Studie über das chinesische Buch der Wandlungen.
Michael von Brück schreibt über den späten Govinda: „In seinen letzten Jahren hat er sich, angeregt auch durch Teilhard de Chardin und Jean Gebser, einem alle Religionen transzendierenden Weisheitsideal genähert und war selbst die Verkörperung eines meditativ-aktiven Lebens im post-modernen Zeitalter. Er war am Dialog mit christlichen Partnern ebenso interessiert wie an einer geistig-moralischen Erneuerung in der technokratischen Welt.“
Lama Anagarika Govinda verstarb am 14. Januar 1985 im kalifornischen Mill Valley. Wie viele Persönlichkeiten des Geisteslebens Europas und Amerikas schätzten ihn die höchsten Würdenträger des tibetischen Buddhismus. Der 14. Dalai Lama schrieb zu seinem 75. Geburtstag: „Anagarika Govinda hat viel geleistet, um unter Menschen im Westen ein Interesse an der Kultur und Religion Tibets zu schaffen und zu fördern. Zudem fanden Anagarika Govindas Bücher viele dankbare Leser. Die Hingabe, mit der er dafür arbeitete, den heilenden Dharma zu verbreiten, ist inspirierend.“ Im Nachruf von K. C. Ayang Rinpoche auf Lama Govinda heißt es: „Er war wie eine goldene Brücke zwischen Ost und West. Lama Govinda besaß große Kenntnisse des tibetischen Buddhismus und der tibetischen Kultur; er war ein vollendeter Praktiker und erlangte tiefe Verwirklichung.“